Mainstream, Mehrheitsmeinung, Zeitgeist sind Begriffe, die heutzutage von Vielen zutiefst verachtet werden. Dabei kann eine Gesellschaft nur funktionieren, wenn eine überwiegende Mehrheit sich auf gemeinsame Wahrheiten – oder Werte – verständigt, unabhängig davon, ob die in einem objektiven Sinne wirklich wahr und richtig sind. Ohne Nachahmung wären wir alle in dieser Welt verloren. Wir müssen uns von frühester Kindheit darauf verlassen, dass die anderen um uns herum schon wissen, was man zu tun, zu sagen und zu denken hat. Dass man einem ausgewachsenen Höhlenbären alleine und unbewaffnet tunlichst nicht seine Beute streitig machen sollte, war sicher in der Frühzeit einmal ein weithin akzeptierter Gemeinplatz, den niemand ungestraft infrage stellte. Dass die fußläufige Überquerung der A1 in der Rushhour bei Köln keine gute Idee ist, weiß hoffentlich auch jedes Kind, ohne es selbst ausprobiert zu haben. Beides gehört und gehörte auch zum Mainstream. Wir können nur überleben, weil 99% unseres Verhaltens auf Nachahmung beruht. Darin unterscheiden sich Untertanen von Rebellen nur marginal.
Es ist nicht einfach zu entscheiden, welches Verhalten, welche Meinungen man hinterfragen sollte und welche nicht, und es ist manchmal beides nicht ungefährlich. Wenn eine überwältigende Mehrheit 1914 an den Bahnhöfen jubelnd ihre Söhne, Väter und Brüder in den Krieg gegen Frankreich schickte, war auch das aus unserer Perspektive heraus eine krasse Fehlleistung. Als alles Volk im Februar 1943 jubelnd „Ja“ antwortete auf die Frage von Joseph Goebbels „Wollt ihr den totalen Krieg?“, hätte man der Mehrheit deutlich widersprechen müssen, was nicht wenige unter Lebensgefahr wohl auch taten. Dies sind nur zwei Beispiele unter vielen, wo die Mehrheitsmeinung ein ganzes Volk in den Untergang gerissen hat. Von einem breiten Konsens getragen war im ausgehenden Mittelalter auch die Ansicht, dass Hexen hauptverantwortlich waren für die Abkühlung des Klimas, für Hagelschlag, Ernteausfälle und Hungersnöte, mit den bekannt tragischen Begleiterscheinungen. Und heute glaubt eine große Mehrheit immer noch daran, dass Windräder den Klimawandel aufhalten können. Aber bekommt nicht jedes Volk die Führung, die es verdient? Gibt es also nichts zu bedauern, weil die Mehrheit ihre Henker schließlich selbst wählt? Ist die Entwicklung zwangsläufig?
Bekanntlich stirbt die Hoffnung zuletzt. Ich habe seit einigen Jahren das immer stärker werdende Gefühl, dass unsere Gemeinschaft auf einen Abgrund zutreibt, wie eine Kanu-Gesellschaft, die fröhlich feiernd auf einem ruhigen Fluss dahintreibt und den Störenfried verflucht, der vorsichtig auf das stetig zunehmende Tosen eines Wasserfalls aufmerksam macht. Die Mahner gibt es auch jetzt, ausgegrenzt und verdammt wie schon in früheren Zeiten, und trotzdem scheint niemand den Untergang aufhalten zu können oder zu wollen. Im Gegenteil wird die Kriegsrhetorik aus Politik und Medien immer schriller, bei der die Wahrheit bekanntermaßen zuerst stirbt. Auch ich weiß kein Mittel dagegen. Ich mache mir Gedanken und treffe Vorkehrungen, die für den Ernstfall keinesfalls ausreichen werden, so er denn eintritt.
Ich denke, uns geht es immer noch viel zu gut! Die ganze westliche Gesellschaft braucht dringend eine nachhaltige Erdung. Mein Großvater hatte die noch: geboren 1893, gelernter Maurer, Soldat im 1. Weltkrieg inkl. Kriegsgefangenschaft, 1921 Haus gebaut, Hyperinflation, drei Kinder zwischen 1923 und 1931, 2. Weltkrieg, einen Sohn an Lungenentzündung verloren, den zweiten im Alter von 14 Jahren während Evakuierung bei Kriegsende mit Blutvergiftung nur knapp durch Beinamputation gerettet, dann Besatzung und Währungsreform. 1971 stirbt seine Frau während der Goldhochzeit, er selbst mit Kehlkopfkrebs nach Schlaganfall 1974. Gejammert hat er nie.
Vielleicht ist die wiederkehrende Zerstörung notwendig, um neu anzufangen, alte Fehler zu vermeiden und neue zu machen. Alles was lebt, muss sterben, damit das Neue Platz erhält.
Aber vielleicht gibt es noch eine Chance auf einen Neuanfang, ohne dass das Alte vollständig untergehen muss. Jeder kann einen Beitrag leisten. Wichtig ist es, seine Überzeugungen ständig zu hinterfragen. Genau dies ist ein Zeichen gesunder Intelligenz. Egal wie sicher ich mir in meiner Meinung bin, rufe ich mir immer wieder ins Bewusstsein, dass ich angesichts neuer Fakten vollkommen falsch liegen kann. Das bedeutet natürlich nicht, dass ich ständig meine Meinung wechsele, bin aber darauf vorbereitet, sie von Zeit zu Zeit anzupassen. An meiner Position festzuhalten würde erzwingen, unwillkommene Tatsachen dauerhaft zu ignorieren. Oft geschieht das einfach aus Dummheit und Unfähigkeit heraus. Das ist bedauerlich, aber kaum zu ändern. Dummheit regiert bekanntermaßen die Welt. Bei ansonsten hochintelligenten Menschen allerdings spielt regelmäßig Machterhalt eine wichtigere Rolle. Wer weitreichende Entscheidungen auf einer fragwürdigen Basis eigener Überzeugungen getroffen und durchgesetzt hat, kann dieses Fundament nicht einfach infrage stellen, ohne seine Existenz zu gefährden. Energiewende, Atomausstieg, Klimapolitik, Migrationspolitik, Euro-Rettung zähle ich in diese Kategorie, wo die führenden Köpfe vermutlich wissen, dass jede einzelne dieser Entscheidungen in eine Sackgasse führt. Die Verantwortlichen sehen sich vor die Alternative gestellt, das Desaster zuzugeben und die eigene Karriere damit sofort zu beenden, oder jetzt richtig Gas zu geben, neue Sündenböcke für offensichtliche Fehlentwicklungen zu benennen und vielleicht die Rolle bis zur Pensionierung noch durchzuhalten. An solchen Fehlentscheidungen hängen nicht nur Einzelpersonen, sondern ganze Netzwerke, die schwer zu fassen sind. Ausbaden muss es immer die Bevölkerung, die nur selten in die Lage kommt, Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen, die ihrerseits oft unter dem Zwang des Zeitgeistes handeln.
Jeder sollte sich aber fragen, ob er immer einer Mehrheit folgen, oder ob er in der einen oder anderen Weise aus dem Durchschnitt herausragen will. Dazu muss er einige Dinge anders beurteilen. Dass die Mehrheit immer recht hat, ist ein fundamentales Missverständnis, das die Jahrtausende überdauert. Selbst in der Wissenschaft waren es immer Einzelne wie Keppler, Galileo, Newton, Einstein, Heisenberg, die – in früheren Zeiten unter Lebensgefahr – gegen eine überwältigende Mehrheit der Wissenschaftler neue Wahrheiten etablieren konnten. "Folgt der Wissenschaft" ist das Mantra der Alternativlosigkeit. Dabei ist der Satz sinnlos und beruht auf einem fundamentalen Missverständnis. Man kann durchaus ausgewählten Wissenschaftlern folgen. Wissenschaft an sich aber beruht auf Uneinigkeit, ohne die es keine wirklichen Fortschritte gibt. Zu komplexen Sachverhalten kann es niemals nur eine einzige gut begründete Meinung geben.
Im Gegenteil scheint die Frage erlaubt, wann die Mehrheit schon einmal Recht hatte? Ein heute vergessener Leitsatz kritischen Journalismus ermutigte jeden Vertreter der schreibenden Zunft, gerade Mehrheitsmeinungen investigativ zu hinterfragen.
Denken Sie nach! Hinterfragen Sie vor allem vermeintlich „Offensichtliches“ und „Selbstverständlichkeiten“! Lassen Sie sich nicht einschüchtern! Auch komplexe Sachverhalte sind in der Regel verständlich erklärbar. Wenn das als unmöglich behauptet wird, hat der Prophet seine eigene Verheißung vermutlich nicht wirklich verstanden.